Samstag, 20. November 2010

Das Geisterhaus


Ängstlich sucht eine Hand nach meinem Oberarm. Es ist Floyd, der sich in der Dunkelheit fürchtet. Die unheilvolle Geräuschkulisse lässt ihn nicht ganz kalt und vielleicht versucht er auch sich selbst wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass all das nicht wirklich ist.
Wir werden verfolgt.  
Rückblende. New Orleans. The Big Easy. Schnell rasen wir durch die nächtlichen Straßen der Großstadt an der Golfküste. Kevin, der Fahrer, ist nur noch am Fluchen. Ich versuche die anderen Autos im dichten Verkehr auszumachen. Soo und Floyd, die beiden asiatischen Austauschstudenten, sitzen auf dem Rücksitz und suchen krampfhaft Halt, während Kevin das Auto immer wieder ruckartig um enge Kurven oder von einer Spur in die nächste katapultiert. Ich versuche die anderen im Auge zu behalten, aber ich verliere sie von Zeit zu Zeit. Der Verkehr ist so ungewohnt dicht und das erste Auto unserer Kolonne fährt so schnell, dass wir kaum noch mithalten können. Bei all der Aufregung entgeht mir fast völlig, wo ich mich eigentlich befinde.
Ich bin in New Orleans. Es ist zwar schon Nacht, aber die Straßen sind noch immer hell erleuchtet. Wir fahren durch ein wunderbares Lichtermeer. Gusseiserne Straßenlaternen im europäischen Stil verwandeln die nächtliche Stadt in eine glanzvolle Zauberwelt. Palmen , eingerahmt von gepflasterten Gehwegen, flankieren die Straßen und stehen in regelmäßigen Abständen Spalier. Die weißen Hausfassaden, der mehrgeschossigen Stadthäuser, könnte man ebenso in jeder französischen Großstadt finden. Zahlreiche Boutiquen entlang der Hauptstraßen laden auch zu später Stunde noch zum Einkaufen ein und aufdringliche Angestellte verteilen ihre Gratisproben von Parfum und Hautcreme an eilig vorüber schreitende Passanten. Ja, ungeachtet der Tatsache, dass es bereits dunkel ist, kann und will diese Stadt noch nicht zur Ruhe finden.
Wir näheren uns einem verlassenen Industriegebiet. Hurrikan Katrina hat ganze Arbeit geleistet und auch 5 Jahre nach der Katastrophe ist das Leben nicht überall zurück gekehrt. Verlassene Werksgelände und dunkle Fabrikgebäude am Horizont, die durch den Schein der Innenstadt in fahles Licht gehüllt sind, sind nun zu beiden Seiten zu sehen und ich denke mir, dass das eine unschlagbare Lage für ein Geisterhaus ist. Die Kolonne ist wieder vollständig und wir fahren langsamer. Es ist verdächtig still im Auto. Alle sind nervös und die Anspannung steigt, denn niemand kann wissen, was uns gleich erwartet. Immerhin ist in diesem Haus schon jemand gestorben. All die Lichter und der Glanz sind schlagartig verschwunden und man fühlt sich, als ob man in eine andere Welt fährt.
Jetzt werden wir verfolgt.
Wir sind bereits tief ins innere des Geisterhauses eingedrungen. Dunkelheit umgibt uns. Das wenige Licht verwandelt all die Spinnweben und eingestaubten Möbel in eine unheilvolle Umgebung.  Bisher hat alles eher an eine Pfingstmarktattraktion erinnert und wenig Grund zur Furcht geboten. Doch jetzt erreicht der Horror eine neue Qualität. Die Zombies, die nun hinter nahezu jeder Ecke warten, versuchen unsere Gruppe auseinander zu treiben. Soo kann schon gar nicht mehr schreien, die Angst hat sie gelähmt. Floyd, der so ängstlich nach meinem Oberarm in der Dunkelheit sucht , ist inzwischen fast panisch und ich spüre, wie erleichtert er ist, endlich eine vertraute Gestalt in der Dunkelheit ausgemacht zu haben. Die Zombies sind bewaffnet, Kettensägen und blutige Messer verlangen nun nach unseren Leibern. Eines der Mädchen wird gepackt und einen alten Kühlschrank gesteckt. Der Rest der Gruppe kann ihr nicht helfen. Alle suchen das Heil in der Flucht, denn sie jagen uns.
Nach einer Stunde ist der Spaß vorbei und mit einem Lächeln auf dem Gesicht verlasse ich das Gespensterhaus in New Orleans. Das Geisterhaus ist eine der großen Attraktionen der Stadt und vor Jahren wurde ein Gast von den über 100 Darstellern so erfolgreich zu Tode erschreckt, dass er tatsächlich verstarb. Für uns war es einfach nur ein großer Spaß und im Nachhinein hat es auch allen gut gefallen.
Inzwischen bin ich wieder in Mississippi. Ich treffe die letzten Vorbereitungen für die nächste große Reise. Ohio ist das nächste Ziel. Lake Erie im Norden der USA ist 18 Autostunden von Clinton entfernt. Thanksgiving werde ich in Ohio bei der deutschstämmigen Familie Borntreger verbringen.

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